Das Spenst gießt sich noch einen tiefen Schluck ins Glas, trinkt ihn in einem Zug und starrt alkoholisiert auf die mit Ölfarbe gestrichene Küchenwand. Es tut sich unendlich Leid. Seine Zeit ist vorbei. Nirgendwo wird ein tüchtiges Gespenst gebraucht, das seinen Beruf noch von der Pike auf gelernt hat. Früher, ja früher war alles noch ganz anders. Da genoss man noch hohes Ansehen in der Welt und konnte auf Parties jede Menge attraktive Geisteswesen des anderen Geschlechts um sich scharen, wenn man von gelungenen Spukereien berichtete. Früher sahen kleine Kinder jeden Abend unter dem Bett nach, ob ein Monster darunter lag. Schriftsteller wie der berühmte Engländer Sir Arthur Conan Doyle, der deutsche Jurist E. T. A. Hoffmann, der Kommunist Karl Marx und der Dandy Oscar Wilde lieferten die vorzüglichsten Geistergeschichten, de Herren zittern und Damen erbleichen ließen. Gespenster konnten ihren Dienst tun, durch alte Schlösser mit knarrenden Dielen spuken und sensiblen Damen einen Schreck fürs Leben einjagen, um sie anschließend in die Arme tapferer Ritter zu treiben. Wenn diese dann der Weiblichkeit mit ihrem Liebesgeflüster die Angst vor Geistern zu nehmen versuchten, saß das Spenst in der Nähe und wischte sich eine Träne aus der leeren Augenhöhle. Das war ein schönes Leben.
Dem Spenst ist jetzt ganz weinerlich zumute. Es gießt sich noch ein Glas von dem wunderbaren Himbeergeist ein. Sein Blick gleitet über das weiße Gespenstergewand. Ziemlich abgetragen sieht es aus, an manchen Stellen kann man den Stoff beim besten Willen nicht mehr als weiß bezeichnen. An einer Seite ist das Gewand sogar ein Stück aufgerissen, so dass man die nackten mageren Beine des Spensts sehen kann. Eine Schande ist das. Vor so einem Gespenst gruselt sich kein Mensch, da bekommt man eher Mitleid. Eigentlich kann sich ein Geist, der etwas auf sich hält, kaum noch aus der Höhle trauen.
Es hebt das Glas ein weiteres Mal und leert es ohne abzusetzen. Das Spenst schüttelt sich. Brrr, was für ein scharfes Zeug. Da wird einem doch gleich ein kleines bisschen wärmer ums kalte Herz. Das ist auch gut so, denn jetzt wandern die Gedanken des traurigen Geistes zu der mauligen Tante vom Jobcenter. Was für ein dummes, selbstgefälliges Weib. So eine hätte das Spenst gern so gründlich zu Tode erschreckt, dass sie ihr ganzes weiteres Leben im Kloster verbracht und sich nie wieder rausgetraut hätte. Aber nichts zu machen. Ein Blick in die Sachbearbeiterinnen-Augen und es war klar, so eine lässt sich nicht erschrecken. Was hatte sich das arme Spenst von ihr nicht alles anhören müssen! Überflüssig sei es und nicht vermittelbar. Sie wollte es in eine Maßnahme stecken und zum Mediengestalter Fachrichtung Webgesign umschulen. „Im Internet, da spielt heute die Musik.“ Völlig demoralisiert spukte das Gespenst im Sozialamt herum, bevor es nach Hause schlich.
Dabei hätte es wissen müssen, dass das Jobcenter ihm nicht helfen kann. Die Zeiten sindvölig geistlos geworden, und die Menschen brauchen keine Gespenster mehr. Sie gruseln sich vor Euro-Rettungsfonds, Kopftuchmädchen, Auto-Zündlern, Autobahnen, Überfremdung, Schwermetall im Essen, Hühnergrippe, Germanys next Topmodel, Schuldenschnitt, Legionärskrankheit, El Kaida, Wall Street und vor allem, was der Papst so sagt und tut. Kein Wunder, dass Gespenster da nicht mehr zeitgemäß sind. Es ist geradezu anders herum. Vor einigen Jahren hatte ein Elektronikmarkt einen freundlichen weißen Geist als Werbefigur. Kinder lesen heutzutage serienweise Bücher über den, dessen Name nicht genannt werden kann, und über die Untaten verliebter Untoter.
Denn man Prost! Mist, jetzt ist die Flasche leer. Das Spenst wankt durch die Gespensterhöhle. Es stößt sich an den Wänden und fügt den Beschädigungen seines Kostüms einen weiteren kleinen Riss zu. Schimpfend und brummelnd tastet es sich vor bis zur kleinen Schreibecke, in der der Computer steht. Hier findet das letzte Ritual vor dem nächtlichen Spuken statt, ein Besuch auf der Website GruselpartnerScout24.de. Das Spenst hat sich nämlich zu allem Unglück auch auf Partnersuche begeben und ist schon ganz gespannt darauf, zu sehen, ob die kleine dralle Hexe zurückgeschrieben hat, die sich einen niveauvollen Spuk zu zweit, bei Gefallen mehr, wünscht.
Doch das alkoholisierte Geisteswesen kommt nicht mehr dazu, nach der Hexe zu sehen. Kaum hat es sich auf der Website von GruselpartnerScout24 eingeloggt, fällt seine leere Augenhöhel auf die Werbung der Internet-Jobbörse monster.de. Ein Software-Konzern sucht gerade dringend böse Geister, Untote, Trolle und Gespenster jeder Art. Das Unternehmen, das sich auf Englisch GanzKleinUndWeich nennt, braucht Unterstützung dabei, PC Benutzer immer wieder von der neuesten Software zu überzeugen. Dazu nisten sich kleine Gespenster ganz tief im Inneren des undurchschaubaren Geräts ein und spuken herum. Mal bringen sie den Bildschirm zum Einfrieren, mal verursachen sie die berühmten schweren Ausnahmefehler. Besonders beliebt ist auch ein Absturz des Schreibprogramms, der 90 Seiten einer Examensarbeit mit sich in einen digitalen Abgrund reißt. Natürlich braucht kein böser Geist dafür eine Vorbildung, das Unternehmen schult seine Mitarbeiter regelmäßig auf die beste Weise. Es zahlt gut und bietet nicht nur vorbildliche Sozialleistungen, sondern auch einen jährlichen Betriebsausflug mit der Geisterbahn nach Loch Ness.
Ohne sich noch um die liebeswillige Hexe und den Posteingang bei GruselpartnerScout24.de zu kümmern, sucht das Spenst seine Bewerbungsunterlagen zusammen. Das ist der Job, von dem es immer geträumt hat. Statt in feuchten Kellern sein Unwesen zu treiben, kann es trocken auf einem Motherboard sitzen. Es braucht keine Arbeitskleidung und kann wahrscheinlich ein Großteil seiner Kunden in Heimarbeit übers Netz betreuen. In kürzester Zeit hat es die Bewerbung abgeschickt, spukt noch ein bisschen aufgeregt im Zimmer herum und fällt dann müde in das Spinnennetz, das ihm als Hängematte dient. Und als das Spenst das erste Schnarchen ertönen lässt, schiebt sich die Sonne über den Horizont und ein neuer, hoffnungsfroher Tag beginnt!