Lasst mich lügen.

Mein Vater war ein Lügner und mein Großvater natürlich auch. Sie waren beide große Lügner, großartige Lügner. In der Kunst, die Wahrheit zu verschleiern, haben sie es zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Ich kenne unsere Familiengeschichte nicht so genau, doch ich kann mir sehr gut vorstellen, dass bei uns seit Jahrhunderten in einem Ausmaß gelogen wurde, welches auch dicke Balken aus heimischem Hartholz dazu bringen würde, sich zu biegen wie gekochte Spaghetti. Wenn dann Lügen wirklich Balken biegen würden, was meiner Ansicht auch nicht so ganz wahr ist.

Wenn ich hier jetzt zugebe, dass ich die Geschichte unserer Familie nicht so genau kenne, dann liegt das natürlich in der Natur der Sache. Mein Vater hat mir die Chronik unseres Geschlechts mir immer wieder in allen Einzelheiten berichtet. Er wollte unbedingt, dass sein Sohn unbändigen Stolz verspürte, wenn er an die Taten seiner Vorfahren dachte. Doch jedes Mal, wenn mein Vater zu einer noch phantastischeren Version unserer Familiengeschichte ausholte, gab es neue Fakten, mehr heroische Taten und noch offensichtlichere Widersprüche, so dass jeder Idiot nicht anders konnte als zumindest zu ahnen, wie weit diese Erzählungen von der nackten Wahrheit entfernt waren. Und das eine Mal, dass mein Großvater sich über die lange Geschichte seiner und unserer Vorfahren ausließ, hatte seine Erzählung nichts, aber auch gar nichts mit den Hirngespinsten meines Vaters gemein.

Ich hoffe, es wird jetzt schon klar, dass mein Vater und mein Großvater nicht nur logen wie gedruckt, sie taten dies auch ohne jede Scham. Im Gegenteil, sie waren besessen vom Ehrgeiz, zu den besten Lügnern des Landes zu gehören, ja wenn irgend möglich alle anderen Vertreter dieser Zunft weit hinter sich zu lassen und die Goldmedaille der Unwahrheit zu erstreiten.

Inzwischen lebe ich schon viele Jahre im Land des deutschen Waldes und weiß, wie gering hierzulande die Kunst der Lüge geschätzt wird. Es ist deshalb für Sie, liebe Leser und Zuhörer, wichtig zu verstehen, wie langweilig und unkreativ die hier gepflegte Wahrheitsliebe eigentlich ist. Bei uns zu Hause sagte man immer, die Wahrheit spricht nur einer, der zu dumm ist, sich eine gute Lüge auszudenken. Das Wahre ist wie eine schmutzige Hauswand. Was für ein trauriges Leben ist das, wenn man sein Leben lang auf eine schmutzige Wand starren muss. Wie viel mehr Spaß macht es, eine solche Wand ein bisschen zu verzieren. Und wahrhaft glücklich ist ein Meister, der eine graue Wand nur dazu benutzt, ein buntes Gemälde darauf zu schaffen, einen Strand unter Palmen etwa, der jeden Betrachter in Entzücken zu versetzen vermag.

Ja, die Lüge hat in meiner Heimat ein hohes Ansehen. Es gehört viel Einfallsreichtum, Mut und Entschlossenheit dazu, gut zu lügen. Es ist eine Aufgabe für die wirklich Berufenen. Deshalb suchen die meisten meiner Landsleute Rat bei professionellen Lügnern, wenn sie eine besonders gute Lüge brauchen, zur Konfirmation etwa, zur Hochzeit oder zu anderen besonderen Gelegenheiten. Deshalb ist der Beruf des Flunkerers bei uns eine Profession mit hohem Ansehen, vergleichbar vielleicht mit einem Arzt oder einem Astronomen. Mein Vater hatte es immerhin zum Oberhoflügner bei unserer Majestät gebracht, er schrieb alle Reden und Verlautbarungen, die bei Hofe gebraucht wurden. Unsere Familie besaß ein großes Haus am Markt der Hauptstadt, wir hatten alles, was wir begehrten. Mein Vater hatte uns zu einer wohlhabenen Familie emporgelogen. Ja, mit der Fähigkeit, die Wahrheit durch etwas Besseres zu ersetzen, kann man es weit bringen.

So wird es hier auch niemanden erstaunen, dass auch ich die Laufbahn der kreativen Unwahrheit einschlagen wollte, kaum dass ich wusste, was eine Lüge überhaupt war. Ich ging also in die Lügenschule und später studierte ich die Kunst der Falsifikation und stand dicht vor meinem Abschluss, als die Katastrophe geschah.

Es gibt nur eines, was der Lügner fürchten muss, und das ist die Wahrheit. Ich sagte schon, dass mein Vater keinen Wettbewerb ausließ, um der unangefochten beste Lügner unseres Heimatlandes zu werden. Bei den Münchhausen-Tagen in der Hauptstadt meines Heimatlandes ging er mit einer sehr kreativen und phantasievollen Lüge über die Zeugungsrituale bestimmter Frösche ins Rennen. Dabei passierte ihm etwas, das keinem guten Lügner je passieren darf. Schon gar nicht einem Lügner, der sich in einem Wettbewerb befindet. Denn was mein Vater über die Paarung dieser Frösche behauptete, war leider, so phantasievoll es auch klang, die nackte Wahrheit. Kaum stellte die Jury das fest, wurde er aus dem Wettbewerb geworfen und seine Majestät verlangte den Kopf des Übeltäters auf einem silbernen Tablett. Wir schafften es gerade noch in der Nacht über die Grenze.

Drei Tage lang irrten wir am ungarischen Grenzzaun entlang, bevor wir den Weg in Richtung Österreich und schließlich hierher fanden. Mein Vater starb ein paar Tage später an gebrochenem Herzen. Ich habe keine Zeit zu trauern. Ich kämpfe um mein Leben, denn wenn ich in mein Heimatland abgeschoben werde, droht mir das Schlimmste. Sie werden mich mit einem Wahrheitsserum töten, befürchte ich. Also hoffe ich, dass hier in Deutschland die Lügenpresse schnell genug begreift, wie nützlich ein Lügner für sie sein kann, der aus einem alten Geschlecht von Lügnern stammt und bestens ausgebildet ist. Bitte, habt ein Herz, lasst mich für Euch lügen.