Eichhörnchen

Der Schriftsteller hat ein Notizbuch, weil Hemingway, Kerouac und andere gesagt haben, dass ein Schriftsteller ein Notizbuch braucht. Wenn der Schriftsteller eine gute Idee hat, schreibt er sie in das Notizbuch rein. Er hat mal mehr und mal weniger gute Ideen, aber insgesamt hat er eine ganze Menge Ideen. Ein Notizbuch reicht nur ein paar Monate, dann muss ein neues Notizbuch her, um die ganzen guten Ideen aufzuschreiben.

Wenn er eine Idee aufgeschrieben hat, blättert er gern nochmal durch das aktuelle Notizbuch, um nachzugucken, was für gute Ideen er schon vorher gehabt hatte, und er ist immer wieder erstaunt, wie viele das sind. Leider sind manche Ideen mit der Zeit nicht mehr verständlich, zum Beispiel hat er notiert: „Krasse Sachen schreiben“. Das ist ohne Zweifel eine gute Idee, aber was genau hatte er sich wohl dabei gedacht, als er das notiert hatte? Er weiß es nicht mehr. Andere gute Ideen erweisen sich als eine Art Kalauer, „der Dämon demontiert sich selbst.“ zum Beispiel. Eine sehr gute Idee, doch leider weiß er nicht recht, wie er sie verwenden könnte. Was für ein Satz würde wohl zu diesem Satz passen? Was für eine Geschichte würde wohl aus dem Satz entstehen können? Der Schriftsteller weiß es nicht, das gibt er gerne zu. Na ja, nicht so gerne, aber er gibt es zu.

Er fragt sich, ob Hemingway in seinem Notizbuch wohl auch solche rätselhaften Einträge gefunden hat. Ganz sicher, denn Hemingway war Alkoholiker, und was man im Rausch für Ideen hat, unglaublich, aber leider sind die nur im Rausch wirklich verständlich, der nüchterne Verstand kann sie oft nicht mal entziffern. Im Notizbuch des Schriftstellers bleiben allerdings noch genug Ideen übrig, die brauchbar sind und eine gute Geschichte versprechen. Beispiel: „Was wäre, wenn die Eichhörnchen im New Yorker Central Park Gangs bilden, um die Spaziergänger zu überfallen und auszurauben?“ Na, ist das eine Klasse-Idee? Man sieht das Buch schon vor sich, irgendwie, und auf dem Cover ist ein teuflisch grinsendes Eichhörnchen in einer Gruppe böse guckender Eichhörnchen. Bestseller-Material, keine Frage, man denke nur an den weißen Hai.

Nun ist das aber so: Wenn er alle nicht so passenden Ideen aussortiert, bleiben einige gute übrig, aber wie viele das sind, das weiß er nicht. Auf jeden Fall ist jede gute Idee ziemlich kostbar. Weil Bestseller-Material! Weil der Schlüssel zum Ruhm! Ruhm und Ehre! Leider sind die Ideen auch etwas launisch, er könnte fast denken, sie sind irgendwie lebendig und verhalten sich wie verwöhnte Gören. Da nimmt er eine Super-Idee und setzt sich hin, um eine Geschichte zu schreiben, und dann taut die Idee weg wie ein Schneeball und zehn Minuten später muss er feststellen, dass sie weg ist und alles nass, sozusagen. Oder er blättert das Notizbuch durch und die Ideen schneiden Grimassen und grölen Spottgesänge. Das mag er besonders wenig. Es gibt auch Ideen, die nach Tagen oder im Einzelfall sogar Stunden verfaulen und üble Gerüche aussenden wie verdorbene Meeresfrüchte.

Dem Schriftsteller ist schon klar, dass er der Schriftsteller ist, also der Herr im Haus, und dass die Ideen nichts wären ohne ihn und er sich keine Frechheiten gefallen lassen muss, sich keine Frechheiten gefallen lassen darf. Hemingway hätte sich niemals von Ideen auf der Nase rumtanzen lassen, er hätte sie fertig gemacht wie einen Schwertfisch an der Hochseeangel oder wie einen Löwen in Afrika oder wie einen Stier in den Gassen von Pamplona! Pah! Die Ideen haben sicher gezittert, wenn Hemingway das Notizbuch aufgeschlagen hat.

Sei wie Hemingway, sagt sich der Schriftsteller. Zeige dem Löwen, wer hier das Sagen hat und verwandle ihn in einen Roman. Wobei, in diesem Vergleich ist der Roman der tote Löwe, und das klingt nicht so wie ein Buch, das er schreiben will. Ganz und gar nicht. Tja, und aus diesen Gründen und noch einigen mehr schreibt er gern neue Ideen in das Notizbuch und freut sich, dass schon so viele darin zu finden sind, aber er hat ein bisschen Respekt davor, eine von ihnen auszusuchen und eine Geschichte daraus zu formen.

Ein bisschen Respekt ist gut gesagt, er hat eine höllische Angst davor. Er weiß, er ist ihnen ausgeliefert wie ein Spaziergänger einer Gang fieser Eichhörnchen, er hört schon ihr höhnisches Gelächter, wenn er das Notizbuch auf dem Schreibtisch liegen sieht. In solchen Momenten will er googeln, wie Körbe flechten geht, und ob man auch durch Körbe flechten berühmt werden kann. Vielleicht ist er einfach ein genialer Körbeflechter, der sich für einen Schriftsteller gehalten hat. Könnte doch sein.