Sei Kolumbus! Über die Freude des Entdeckens.

(Ein kurzer Vortrag, den ich bei der Erzählkonferenz Interesting Berlin am 13.3.2010 gehalten habe.)

„Dann besuchen wir diese berühmte Kirche, wo mal dieser bekannte Mönch gelebt haben soll …“ „Und die Torte hier soll ja die beste der ganzen Stadt sein, steht jedenfalls so im Reiseführer!“ „Sein Spätwerk gilt ja als nicht so überzeugend, habe ich in der Zeitung gelesen.“ „Ich glaube, da gabs mal was im Fernsehen drüber.“ Hat erzählt. Stand in der Zeitung. Soll ja gut sein. Hat der Stadtführer gesagt ….

Liebe Besucher von Interesting Berlin!
Gruselt es Euch auch so wie mich, dass viele Menschen von den Medien vorgekaut bekommen müssen, was sich anzusehen lohnt? Menschen, die sich die Kunst des Entdeckens abtrainiert haben, buchen bei ihrem Pauschalurlaub das Pauschalurteil gleich mit, all inclusive. Ich finde das oberschade, denn wer sich auf die Sinne anderer Leute verlässt, hat einfach weniger Spaß am Leben. Lasst uns also die Freude am Entdecken für uns neu entdecken.

Hier im Publikum von Interesting Berlin zu sitzen, ist übrigens schon ein sehr guter Anfang. Wer seinen Samstag Abend auf einer Veranstaltung verbringt, wo er nicht weiß, was ihn erwartet, ist eindeutig auf dem richtigen Weg.

Entdecken ist wie Spielen zuerst mal etwas Kindliches. Bei kleinen Kindern könnt Ihr die ursprüngliche Begeisterung ganz unmittelbar beobachten, wenn Spielzeuge in ihre Einzelteile zerlegt werden oder der Nachwuchs neue Verwendungsmöglichkeiten für Lebensmittel findet. Hier hat die Lust am Forschen ihren Ursprung. Oft findet sie allerdings ihr jähes Ende durch den Kontakt mit Menschen, die das Entdecken verlernt haben. Wenn die nicht einsehen wollten, dass ein Brot auch ein Boot sein kann, kommt es zum Konflikt, und das endet nicht selten in akuter Entdeckungsunlust.

„Entdeckerfreude“ ist eine Haltung, die manche von uns neu lernen müssen. Haltet die Augen offen! Es kommt nicht darauf an, wo Ihr seid oder was Ihr tut. Stöbert die Dinge auf, die Ihr persönlich interessant findet, und auf die vielleicht niemand sonst einen zweiten Blick wirft. Niemand braucht ein Schiff, um auf Entdeckungsreise zu gehen. Ihr könnt vor der Haustür anfangen und das merkwürdige Plüschtier in dem dort geparkten VW Bus untersuchen.

Eine Camera kann dabei helfen. Manchmal ist es gut, mit der Camera in der Hand die Umgebung nach Motiven abzusuchen. Nicht nach dem einen, ganz besonderen Motiv, das tausend Preise gewinnt. Nein, sucht eher nach vielen Motiven, die Euch aus irgendeinem Grund ins Auge springen. Denn oft haben wir einen Filter im Kopf, wir haben Ansprüche, immer muss es das Tollste, Schönste, Beste sein. Diese Ansprüche versauen uns die Entdeckerfreude und machen Stress. Wie gut oder toll etwas ist, das ist Sache des Urteilens, und es ist entscheidend, auf Urteile so lange wie möglich zu verzichten. Merke: Urteile verstopfen das Entdeckerorgan.

Die Bilder, die ich mitgebracht habe, sind eine Auswahl meiner Entdeckungen. Es sind keine fotografischen Meisterwerke. Niemand braucht sie gut zu finden. Ich habe für heute Bilder herausgesucht, die ich sonst nicht zeige, weil sie Entdeckungen für mich persönlich darstellen. Natürlich sind das alles selbstgefundene und selbstgeknipste Motive. Wer Bilder im Netz findet, der macht sein Essen auch in der Mikrowelle warm.

Wie wird man ein freudiger Entdecker?
– Geht dort spazieren, wo Ihr noch nie wart. Idealerweise vielleicht sogar dort, wo Ihr gar nicht soo gerne hingeht. Ein Industriegelände zum Beispiel, wenn Ihr solche Orte sonst links liegen lässt. Hier stellt Ihr Euch vor, Ihr seid Reporter und müsstet Euch genau über diese Straße oder dieses Gelände eine Reportage einfallen lassen.
– Findet das Interessante im Uninteressanten.
– Setzt Euch in die Straßenbahn und fahrt zur Endhaltestelle. Und wenn Euch irgendwas irgendwo auffällt, steigt einfach aus, ohne nachzudenken. Seid dabei so intuitiv wie Ihr könnt, und schaltet den Verstand ab.
– Bestellt im Restaurant immer mal wieder etwas, völlig Unbekanntes. Klar ist das ein Risiko, aber auch Entdeckerlust pur.
– Lest fremde Fachzeitschriften und wundert Euch über das Vokabular, das man dort findet.
– Begleitet andere Menschen zu ihren Arbeitsplätzen. Fragt sie, was sie in ihrem Beruf tun. Und lasst Euch überraschen: Viele Menschen haben schon ewig auf diese Frage gewartet und geben gern Auskunft.
– Nehmt Bücher in die Hand, die Euch intuitiv ansprechen, auch wenn Euch das Thema bisher nicht interessiert hat.
… Und eins noch: Übt das Entdecken zuerst auch allein. In Begleitung mancher Menschen funktioniert es nicht so gut.

Ich könnte noch stundenlang weitere Beispiele nennen. Doch ich mache lieber Schluss, bevor sie mich von der Bühne tragen.

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