Alexandra Tobor: „Sitzen vier Polen im Auto“. Eine Rezension.
Alexandra Tobor habe ich das erste Mal bei einer Lesung in Berlin gesehen. Es war eine der legendären Veranstaltungen des als @vergraemer bekannten Jan-Uwe Fitz, in denen sich Blogger und Twitterer ihren Lesern und Fans vorstellen. Kennengelernt hatte ich die Autorin schon eine Weile zuvor, als sie ihren Twitter-Followern lange Nächte verkürzte. Als @silenttiffy nutzte sie ausgerechnet die abendländische Kunstgeschichte dazu, ihren Schabernack mit uns zu treiben.
Was ich erwartete, war gut gemachter Blödsinn. Was wir vorgelesen bekamen, war ein Kapitel aus einem noch zu schreibenden Buch. Thema: die Migration eines sehr phantasiebegabten 8-jährigen Mädchens von Polen nach Westdeutschland. Verfasst in einer Sprache, deren feine Ironie sich über allerlei absurde Situationen mokierte, ohne dabei die Akteure bloß zu stellen. Ich hatte damals nur einen Gedanken: Hoffentlich wird dieses Buch fertig, und hoffentlich hält sie die Qualität bis zum Ende durch.
Zwei gute Nachrichten: Es ist fertig und sie hat durchgehalten. Erschienen ist Sitzen vier Polen im Auto unter diesem minimal missratenen Titel in einer Taschenbuchreihe bei Ullstein. Man bekommt das Buch dieser Tage sogar im Bahnhofsbuchhandel. Das macht die Geschichte nicht minder lesenswert. Wenn man es aufschlägt, gerät man in die magische Welt eines kleinen polnischen Mädchens, in der es Katzen zu retten gilt und mit den allerbesten Freundinnen Geheimnisse getauscht werden – eine Art Bullerbü für Fortgeschrittene. In dieser Idylle entdeckt die kleine Ola verschiedene Zeichen, die auf ein weit entferntes paradiesisches Land hindeuten, das mystische BRD!
Die Kinderperspektive ist mitfühlend geschildert und klug gewählt. In ihr dürften sich die meisten Leserinnen und Leser wiederfinden. Wohl jeder kennt die Verhandlungen mit den Eltern, die Versprechen, ab jetzt immer lieb zu sein, wenn nur … So fällt es leicht, Olas Perspektive einzunehmen, als sie mit ihrer Familie wirklich das Abenteuer wagt, ins Paradies zu reisen. Selbstverständlich weist das Reiseziel umso mehr Flecken und Risse auf, je näher man ihm kommt.
Alexandra Tobor hat einen guten Blick für das Absurde, das Komische. Ich habe noch nie eine Migrationsgeschichte aus Deutschland gelesen, die sich so heiter am erhobenen Zeigefinger vorbeischlängelt. Dabei ahnt man, dass die geschilderten Szenen in den verschiedenen Auffanglagern, Grundschulen und Supermärkten bei weitem nicht so komisch waren wie hier geschildert. Erschreckend fand ich zum Beispiel das Kapitel, wo Ola als eine Art Zootier für eine Nacht an die Tochter einer deutschen Familie ausgeliehen wurde. Spätestens hier ist eindeutig Schluss mit lustig.
Was mich persönlich beim Lesen am meisten beschäftigt, ist die unverkrampfte Benennung der Vorurteile in diesem Kulturschockexperiment. Ich bin ja in den Siebzigern in West-Berlin (oder Berlin-West, keinesfalls aber in Westberlin) aufgewachsen. Obendrein ist meine Familie auch mal aus dem Osten geflüchtet, nur einige Jahrzehnte früher und unter anderen Vorzeichen. In meiner Umgebung wurde daher nie bezweifelt, dass die Polen die Arbeit nicht erfunden haben und man sich besser fern von ihnen hält. Dass es sich hierbei um Vorurteile handelte, habe ich erst viel später begriffen. Insofern komme ich auch vor in diesem Buch. Wenn ich mich daran erinnere, was für absurde Phantasien wir über unser Nachbarvolk hatten, will ich mir gar nicht vorstellen, wie viel Wahrheitsgehalt wohl in dem steckt, was ich so über Afghanistan, Ost-Timor oder Mali weiß und denke.
Ich würde es deshalb sehr begrüßen, wenn Frau Tobor sich in den nächsten Jahren die Mühe macht, aus ein paar anderen Ländern nach Deutschland auszuwandern und darüber zu schreiben. Das wäre sicher ebenso komisch wie lehrreich.
PS: Die Abbildung zeigt eine Statue in Krakau. Wer das ist, keine Ahnung, ich wurde protestantisch erzogen.
PPS: @maennig hat mich aufgeklärt. Er schreibt: „Die Dame auf der Steinsäule ist eine gewisse Maria, deren Sohn Jesus sogar den meisten Protestanten bekannt ist. Hier sehen wir sie allerdings in einer ihrer eher katholischen Ausprägungen als Unsere Liebe Frau der Gnaden (Matki Bożej Łaskawej). Die Skulptur wurde im Jahr 1771 von Jan Krzyżanowski geschaffen und erinnert an die Pestepidemie von 1707/1708, bei der laut Volksglauben die Mutter Gottes die Stadt vor Schlimmerem bewahrte. Zuvor fielen allerdings erst einmal über 7.000 Krakauer dem Schwarzen Tod zum Opfer. Typisch sind die so genannten Pestpfeile, die Maria in der Hand hält. Mit diesen schickt der christliche Gott für gewöhnlich die Pest oder andere Strafen nach Wahl zur Menschheit hinab, wenn diese sich wieder einmal daneben benommen hat. Maria fängt sie jedoch zum Schutz der Menschen auf – oder sie prallen an ihr ab. Daher sind die Pfeile auch abgeknickt dargestellt. Ihren heutigen Standort am Übergang vom Stadtgarten (Planty) zur ul. Jagiellońska hat die Statue übrigens charmanterweise 1941 durch die deutsche Besatzungsmacht erhalten.“