A – Ich habe einen Geier gesehen. Bei Ihnen im Garten. Gestern war das, kurz bevor es dunkel wurde, da stand ein Geier vor Ihrem Taxus.
B – Geier? So ein Quatsch, hier gibts keine Geier. Bei mir schon gar nicht. Die fressen doch Aas.
A – Ja, glauben Sie denn, ich weiß nicht, dass Geier Aas fressen? Deshalb habe ich mich auch so gewundert. Ich hab noch gedacht, ich mach da mal ein Selfie, der Geier und ich sozusagen, aber dann hatte ich kein Akku mehr. Und dann war’s dunkel.
B – Sie können mir ruhig glauben, ein Geier bei uns im Garten, das wäre uns aufgefallen. Britta kümmert sich doch so intensiv um den Garten. Für sie ist das wahre Leidenschaft, wie sie immer sagt. Die hätte garantiert einen fremden Vogel bemerkt. Ein Geier ist ja auch nicht gerade ein kleiner Vogel.
A – Ja, aber wenn ich ihn doch gesehen habe. Mit meinen eigenen Augen …
B – Einen Geier … Mann, sie haben vielleicht eine Phantasie. Außerdem, da wo sie den Geier gesehen haben wollen, da steht doch unser Reiher.
A – Geier, Reiher, wo ist denn da der Unterschied?
B – Das ist doch überhaupt nicht das Gleiche! Das beginnt ja schon bei der Ernährung. Der Reiher bevorzugt Fisch, während der Geier …
A – Nu machen Sie sich mal nicht so wichtig. Flügel haben sie ja wohl beide.
B – Da gibt es, wie ich schon sagte, große Unterschiede …
A – Ein Buchstabe, sage ich Ihnen, ein lumpiger Buchstabe. Geier, Reiher, also wo da der Unterschied …
B – Jedenfalls, der Reiher, der REIHER, der steht da immer. Von morgens bis abends. Der kümmert sich um die Karpfen.
A – Um die Karpfen? Bei Ihnen sind doch keine Karpfen im Vorgarten!
B – Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich bin da nicht so sicher. Britta jedenfalls sagt, jemand hat die ganzen Stiefmütterchen angeknabbert. Und in der Zeitschrift, die sie abonniert hat, da stand, dass es dieses Jahr eine Karpfenplage gibt. Das hat sie mir vorgelesen. Also ich gehe davon aus, dass das dann stimmt.
A – Was issen das für eine Zeitschrift?
B – Die heißt “Fisch und Vorgarten”, glaube ich.
A – Eine Karpfenplage in ihrem Vorgarten? Das ist ja wohl der letzte Schwachsinn.
B – Nun seien so mal nicht so vorlaut, Herr Geierreiher? Oder soll ich Reihergeier zu Ihnen sagen?
A – Karpfen brauchen doch einen Teich. Sie brauchen einen Karpfenteich, wie der Name schon sagt.
B – Wenn meine Britta Karpfen bei uns im Vorgarten verscheuchen will, dann wird sie ihre Gründe haben. Mich geht der Garten ja nichts an. Ich hätte den asphaltiert, wenn Sie mich fragen, aber sie hat ja diese Leidenschaft. Und eines muss man ihr lassen, seit wir den Reiher haben, sind die Karpfen sehr zurückgegangen.
A – Wohin sind die gegangen?
B – Sie sind verschwunden, Mann!
A – Und warum ist der Geier…
B – Das ist ein Reiher!!! Wir sind doch nicht in Mexiko!
A – Warum ist der Reiher immer am gleichen Platz? Fliegt denn der nicht weg?
B – Der kann doch gar nicht fliegen.
A – Ach, Reiher können nicht fliegen? Ich habe schon mal einen Reiher fliegen gesehen.
B – Aber nicht unseren Reiher! Den haben Sie nicht fliegen gesehen?
A – Was macht Sie denn da so sicher?
B – Na, unser Reiher ist aus Plastik. Den haben wir aus dem Baumarkt. Aus der Karpfen-Bekämpfungs-Abteilung.
A – Karpfen-Bekämpfung? Das glaube ich Ihnen nicht.
B – Na ich denke, das hat mit diesen Krähen angefangen. Sie kennen doch diese Plastikkrähen, die man sich hinstellt, wenn die Tauben einem alles zukacken. Wahrscheinlich hat das so gut funktioniert, dass man jetzt gegen die Karpfen auf die gleiche Weise vorgeht.
A – Haben Sie denn schon je mal, haben Sie denn nur ein einziges Mal einen Karpfen in Ihrem Vorgarten Stiefmütterchen anknabbern gesehen?
B – Nein, zum Glück nicht! Aber gestern haben die Karpfen zum Gegenschlag ausgeholt.
A – Gegenschlag? Wie denn das?
B – Na, als wir heute morgen auf die Terrasse gekommen sind, da lag der Reiher da. Die Karpfen haben ihn einfach umgeworfen. Verdammte Fische aber auch!