Mein Senf zu: Avenidas und Bewunderer

 

Hier ist mein Senf zur der Gedichtübersteichung. Ich habe nämlich gemerkt, dass ich mich auch persönlich angegriffen fühle. Nun gebe ich nicht viel auf das, was Hochschulen über Kunst herausfinden. Aber das Gedicht auf der Hauswand zu streichen ist schon ziemlich krass, um nicht zu sagen dreist.

Die Avenida da Liberdade in Lissabon, die alle nur „Avenida“ nennen, ist ein beeindruckende Straße. Ich mag sie sehr. Ja, in den Gebäuden sind hauptsächlich Banken, Luxushotels und Filialen der teuren Modeketten. Ja, auf den inneren Fahrspuren tummelt sich eine Menge Verkehr. Aber da sind die grünen Flächen zwischen den inneren Fahrspuren und den äußeren. Hier befinden sich richtige kleine Parks mit exotischen Bäumen und Blumenbeeten, in denen man im Dezember Weihnachtssterne und Alpenveilchen bewundern kann. Es gibt Statuen, kleine Teiche und viele sehr gemütliche Parkbänke. Das Schönste sind die kleinen Kioske mit ein paar Tischen davor, kleine Cafés unter freiem Himmel.

Ich war in der Silvesternacht 2016/17 in Lissabon. Auf dem großen Platz am Fluss sollte es ein Konzert geben und Feuerwerk um Mitternacht. So bin ich gegen 21 Uhr aufgebrochen und durch die Stadt zum Fluss geschlendert, ein großes Stück davon auf der Avenida. Die war festlich geschmückt mit Lichtern, die aus den Bäumen zu regnen schienen. Dazu: Keine Böller, eine festliche Stimmung wie am Heiligabend.

An einem der Kioske war eine Tanzfläche mit bunten Lämpchen geschmückt, ein DJ spielte Latin-Musik, Salsa, Tango … Viele Paare in Abendkleidung tanzten unter freiem Himmel in das Neue Jahr hinein. Das war wunderschön und für die Augen eines Nordeuropäers ein sehr ungewöhnlicher Anblick. Ich habe mich eine Weile auf eine Bank gesetzt und dem Treiben zugesehen. Natürlich habe ich die tanzenden Frauen bewundert, ihre Anmut, die schönen Abendkleider aus glitzernden Stoffen, und überhaupt den Tanz.

An diese Szene habe ich mich erinnert, als ich das Gedicht auf der Hauswand gesehen habe. Deshalb habe ich mich angegriffen gefühlt, weil ich natürlich ein Bewunderer war, der natürlich auch die Blicke auf die schönen Frauen mit ihren Tanzpartnern ruhen ließ.

Was mich an der Diskussion vor allem stört, ist, dass es dabei offensichtlich nur um Argumente geht, und um Beleidigungen. Dabei besteht Lyrik, Literatur, Kunst ganz allgemein vor allem aus Bildern, die Emotionen hervorrufen. Ich für meinen Teil mag Literatur, die mich trifft, mehr im Bauch als im Kopf. Texte, die sich mir nicht nur über den Verstand erschließen. Das Gedicht über die Avenidas, die Frauen und den Bewunderer tut das für mich. In ihm habe ich für einen Moment etwas über mich erfahren, das mir gefallen hat.

Ja, diese unselige Diskussion: Jeder hat eine Meinung zum Gedicht. Doch kaum jemand hat versucht, es zu begreifen, sich seiner Faszination auszuliefern.

Das allerdings kommt mir aus meinem Studium bekannt vor. Damals, in den 80igern hat man bei den Germanisten mehr über die politische Einstellung eines Autors als über die Faszination seiner Werke gesprochen. Deshalb halte ich mich seitdem von Hochschulen fern. Sollen sie doch ihre Wände streichen, wie sie wollen, meinetwegen.

(Das Bild zeigt die Avenida da Liberdade, aber nicht genau die beschriebene Situation.)

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