Ich bin froh, dass ich die Gruppe habe. Wir treffen uns jeden Dienstag in den hinteren Räumen der Beratungsstelle. Gegenüber ist die Teeküche. Erstmal wird Früchtetee gekocht, es gibt drei verschiedene Sorten in großen Thermoskannen. Wir haben Teebecher mit verschiedenen niedlichen Motiven oder Werbeaufdrucken. Kaffee und schwarzer Tee werden nicht gern gesehen. Manche unserer Gruppenmitglieder sind hypersensibel und können mit der Energie des Koffeins nicht umgehen.
Nacheinander treffen alle Mitglieder ein. Wir räumen die Tische an die Wände und bauen einen Stuhlkreis auf. Ich habe den Verdacht, dass dies alle Gruppen tun, die sich hier treffen, so dass die Tische letztendlich überflüssig sind. Aber es kann auch sein, dass die Tische nur pädagogischen Zwecken dienen. Das Wegräumen stärkt die Gemeinschaft – und für einige von uns stellt es die einzige Betätigung in der Woche dar, die sie ein wenig ins Schnaufen bringt.
Wir setzen uns in den Stuhlkreis. Jeder hält seinen Teebecher in den Händen und starrt in die dampfende Flüssigkeit. Gundula schleppt ein Tischchen aus dem Flur herbei, um ihren Becher abzustellen. Friedjung ist noch damit beschäftigt, die Fenster zu öffnen, um etwas frische Luft hinein zu lassen. Dazu muss eine riesige Topfpflanze bewegt werden. Ich habe das Gefühl, die Pflanze wehrt sich, und er kämpft mit ihr.
Friedjung ist unser Gruppenleiter. Er eröffnet den Abend und stellt die beiden Neuen vor, einen Mann und eine Frau. Wir gehen über zur Eingangsrunde. Jeder von uns erzählt, wie es ihm geht, wo er gerade steht und ob er „es“ wieder getan hat. Wir versuchen, jeder Erzählung mit Empathie zu begegnen. Wir sitzen alle im selben Boot. Denn wir sind Süchtige.
Jetzt dürfen die Neuankömmlingen etwas über sich berichten. Der Mann nennt sein Alter und die Zahl seiner Kinder. Die Frau dagegen holt weit aus, lässt ihr ganzes Leben vor uns auferstehen und berichtet von vielen Kränkungen, Ungerechtigkeiten und Verletzungen. Wir Stammgäste üben uns in Geduld. Darin sind wir Profis. In den acht Jahren, in denen die Gruppe besteht, haben wir schon viele solcher deprimierenden Geschichten gehört.
Die anschließende Diskussion ufert aus. Einige von uns nutzen bestimmte Aspekte in der leidensreichen Lebensgeschichte der neu angekommenen Frau, um selbst Erlebtes beizusteuern. Meist geht es um Erfahrungen, die noch schrecklicher sind als die soeben gehörten. Längst ist kein roter Faden mehr zu erkennen, außer dem, dass jeder es ähnlich schwer hat und sich tapfer dem Schicksal gegenüber stellt.
Alle sind wir süchtig nach dem Besuch von Selbsthilfegruppen. Manche von uns haben bis zu zwanzig verschiedene Gruppen pro Woche besucht. Einige von uns hatten in den Fluren der Beratungsstelle geschlafen, um keine einzige Gruppe zu verpassen. Doch schließlich hat jeder Einzelne gespürt, dass er Hilfe braucht, dass die Gruppen sonst sein Leben zerstören.
Jetzt unterstützen wir uns gegenseitig. Es gibt eine Telefonliste. Jeder von uns hat einen Partner, der auf ihn aufpassen muss. Wenn wir die Lust verspüren, unserer Sucht nachzugeben und eine Selbsthilfegruppe zu besuchen, rufen wir sofort unseren Partner an. Der gibt dann sein Bestes, um uns von diesem Vorhaben abzuhalten. Oft machen wir stattdessen Kinobesuche, oder manche gehen zum Boxen. Friedjung hat seinen Partner sogar angezeigt und einsperren lassen. Manchmal hilft eben nur konsequentes Handeln gegen die Sucht. Wir müssen unseren Partner vor sich selbst schützen, nahezu um jeden Preis. Es ist wie in jeder anderen Suchthilfe auch. Man munkelt von Fällen, wo Menschen in die Geschlossene gekommen sind. Dort hat man sie ans Bett gefesselt, um ihnen jeden Besuch einer Selbsthilfegruppe unmöglich zu machen.
Den meisten von uns fällt es schwer zu begreifen, wie es soweit kommen konnte.