Wenn wir erklimmen.

Gipfelkreuz

Musik spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben. Eines meiner liebsten Lieder ist: „Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, steigen dem Gipelkreuz zu ja zu, brennt eine Sehnsucht in unsern Herzen, die lässt uns nimmermehr in Ruh ja Ruh …“

Mein Vater hat es mir immer vorgesungen. Mein Vater hat mir auch erklärt, was das Lied bedeutet. Früher sind die Menschen auf Berge gestiegen, das war abenteuerlich und manchmal ziemlich gefährlich. Sie haben gesungen, um ihre eigenen Ängste ein bisschen zu übertönen, hat mein Vater gesagt. Mein Vater konnte alles gut erklären. Er hat immer so getan, als ob er über alles Bescheid in der Welt genau wisse. Dabei ist mir schon lange klar, dass er die ganzen Geschichten von meinem Großvater hat, denn der ist ja der letzte, der auf dem Planeten geboren wurde.

Ich liebe den Optimismus, den das Lied von den Bergvagabunden ausstrahlt. Die Menschen, die auf diese Berge gestiegen sind, wollten immer höher hinaus. Sie wollten bis zum höchsten Punkt des Berges steigen. Das hieß damals Gipfelkreuz, weil sie, wenn sie den Berg erstiegen hatten, ganz oben ein Kreuz zu Ehren ihrer Gottheit errichteten. Das war noch vor der großen Glaubenskrise, die mit der Abschaffung der Religion endete.

Einen Berg muss man sich so vorstellen: Der Planet bestand aus einer sehr harten Masse. Diese Masse war aber nicht gleichmäßig verteilt. An manchen Stellen hat sie sich bis zu 9000 Meter hoch getürmt. Das nannten die Menschen Berge, und manche besonders Mutige entwickelten die Leidenschaft, sie zu erklimmen.

Ich habe natürlich Filme über Berge gesehen. Wenn mutige Mensche einen Berg erklimmen, kann es sehr kalt werden oder es kommt ein Wetter, dann gibt es etwas, das Wind heißt, das ist oft tödlich. Und eine weiße Masse gibt es auch, die ist ebenfalls potenziell tödlich. Die Menschen haben sich damals freiwillig großen Gefahren ausgesetzt, das können wir heute nicht recht verstehen. Aber was ich gerne mal erlebt hätte, das ist die frische Luft. Auf dem Planeten soll es ungereinigte, nicht kontigentierte Luft gegeben haben, die auch diesen leichten Geruch nach Desinfektion nicht hatte, an den wir uns hier seit über 100 Jahren gewöhnen mussten.

Unser Leben ist natürlich viel geregelter als auf dem Planeten. In unserer Welt gibt es gerade mal vier Stockwerke, und sie ist komplett aus Stahl und Carbonfaser. Von einem Stockwerk zum anderen kommt man bequem mit dem Lift, und nur wenn ein Lift ausfällt, nimmt man die Treppe. Hier gibt es nichts zu erklimmen.

Die einzigen Abenteuer, die wir hier erleben, sind keine Abenteuer, die man gerne erlebt. Wir machen keine Späße mit unserem Leben. Wir erklimmen nichts. Wir sind froh, wenn wir nicht ausgelöscht werden. Ich habe mal erlebt, wie in vier Sektoren der Sauerstoff entwichen ist. Das waren über 100.000 Liter kostbarster Sauerstoff. Wir mussten die Sektionen schließen und haben sechs lange Monate gebraucht, um die verlorene Luft wieder zu produzieren und die Wohnquartiere erneut zu öffnen. Vorher, und das war das eigentliche Abenteuer, sind Leute in Raumanzügen in die verwaisten Sektionen gegangen und haben nach den Löchern in der Hülle gesucht. Und draußen auf der Hülle waren auch Reparaturtrupps. Diese Trupps sind unsere wahren Helden, denen wir immer schon oft unser Leben verdankt haben.

Als die Menschen auf dem Planeten sich auf die Raumfahrt vorbereitet haben, wurden auch viele Filme gedreht. In jedem Film konnte man die Raumschiffe sehen, sie leuchteten weiß vor dem Weltraum. Das ist natürlich Blödsinn. Seit wir uns nicht mehr in der Umlaufbahn des Planeten oder in der Nähe seiner Sonne befinden, ist alles um uns herum schwarz. So schwarz wie es sich ein Mensch nicht vorstellen mag. Es hat schon Leute an Bord gegeben, die unerlaubterweise einen Blick durch eines der wenigen Fenster geworfen haben und so völlig den Verstand verloren. Mit dem All ist nicht zu spaßen.

Deshalb sind die Reparaturtrupps unsere Helden. Sie sind die einzigen, die sich der Schwärze und den absolut lebensfeindlichen Bedingungen des Alls ohne die schützende Hülle des Schiffs aussetzen. Jeder Einsatz ist lebensgefährlich. Draußen gibt es messerscharfe Meteoriten. Ein kleiner Schnitt im Raumanzug kann den Ausfall des Life-Support-Systems bedeuten, und das Leben ist in wenigen Sekunden vorbei. Jeder dieser Frauen und Männer ist darin geschult, in einem solchen Moment zuerst an das Schiff zu denken und das Leck zu verschließen. Es geht um das Leben von 6.800 Menschen, die sich auf diese Reparaturtrupps verlassen, die im Ernstfall ihr Leben opfern müssen. Deshalb öffnen wir unsere Luftschleusen nur, um diejenigen ins Schiff zu lassen, die erfolgreich an der Hülle gearbeitet haben. Die Regeln sind hart. Auf dem Planeten hätte man uns vielleicht Unmenschlichkeit vorgeworfen. Doch wir leben hier in einer unmenschlichen, sauerstofflosen, lichtlosen und absolut schwarzen Welt.

Wenn ich dieses Bergsteiger-Lied höre, das ich mir habe implantieren lassen, muss ich vor allem an unsere Reparaturtrupps denken. Ich kenne niemanden von ihnen persönlich, aber sie haben einen gefährlichen Job, und wenn sie mit ihre starken Lampen aus der Luke schwärmen, um ein Sonnensegel neu auszurichten, ist das vielleicht so, als strebten sie dem Gipfelkreuz zu.

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